Tuesday, April 1, 2008

Die Dialektik der Säkularisierung

Von Jürgen Habermas

Der Bischof von Canterbury empfiehlt dem britischen Gesetzgeber, für die einheimischen Muslime Teile des Familienrechts der Scharia zu übernehmen; Präsident
Sarkozy schickt 4000 zusätzliche Polizisten in die berüchtigten, von Krawallen algerischer Jugendlicher heimgesuchten Banlieues von Paris; ein Brand in Ludwigshafen, bei dem neun Türken, darunter vier Kinder, umkommen, weckt in den türkischen Medien trotz der ungeklärten Brandursache tiefen Argwohn und wüste Empörung; das veranlasst den türkischen Ministerpräsidenten bei seiner Visite in Deutschland zu einem Besuch der Brandstelle, wobei sein anschließender wenig hilfreicher Auftritt in Köln1 wiederum in der deutschen Presse ein schrilles Echo auslöst. Alle diese Nachrichten stammen von nur einem Wochenende dieses Jahres. Sie dokumentieren, wie sehr der Zusammenhalt innerhalb vermeintlich säkularer Gesellschaften gefährdet ist – und wie drängend sich die Frage stellt, ob und in welchem Sinne wir es inzwischen mit einer postsäkularen Gesellschaft zu tun haben.

Um von einer „postsäkularen“ Gesellschaft sprechen zu können, muss diese sich zuvor in einem „säkularen“ Zustand befunden haben. Der umstrittene Ausdruck kann sich also nur auf die europäischen Wohlstandsgesellschaften oder auf Länder wie Kanada, Australien und Neuseeland beziehen, wo sich die religiösen Bindungen der Bürger kontinuierlich, seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sogar drastisch gelockert haben. In diesen Regionen hatte sich das Bewusstsein, in einer säkularisierten Gesellschaft zu leben, mehr oder weniger allgemein verbreitet. Gemessen an den üblichen religionssoziologischen Indikatoren haben sich die religiösen Verhaltensweisen und Überzeugungen der einheimischen Bevölkerungen inzwischen keineswegs so verändert, dass sich daraus eine Beschreibung dieser Gesellschaften als „postsäkular“ rechtfertigen ließe. Bei uns können auch die Trends zur Entkirchlichung und zu neuen spirituellen Formen der Religiösität die greifbaren Einbußen der großen Religionsgemeinschaften nicht kompensieren.2

Dennoch wecken globale Veränderungen und die weithin sichtbaren Konflikte, die sich heute an religiösen Fragen entzünden, Zweifel am angeblichen Relevanzverlust der Religion. Die lange Zeit unbestrittene These, dass zwischen der Modernisierung der Gesellschaft und der Säkularisierung der Bevölkerung ein enger Zusammenhang besteht, findet unter Soziologen immer weniger Anhänger.3 Diese These stützte sich auf drei zunächst einleuchtende Überlegungen.

Der wissenschaftlich-technische Fortschritt fördert erstens ein anthropozentrisches Verständnis der „entzauberten“, weil kausal erklärbaren Weltzusammenhänge; und ein wissenschaftlich aufgeklärtes Bewusstsein lässt sich nicht ohne weiteres mit theozentrischen oder metaphysischen Weltbildern vereinbaren. Zweitens verlieren die Kirchen und Religionsgemeinschaften im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme den Zugriff auf Recht, Politik und öffentliche Wohlfahrt, Kultur, Erziehung und Wissenschaft; sie beschränken sich auf ihre genuine Funktion der Verwaltung von Heilsgütern, machen die Religionsausübung mehr oder weniger zur Privatsache und büßen generell an öffentlicher Bedeutung ein. Schließlich hat die Entwicklung von agrarischen zu industriellen und postindustriellen Gesellschaften allgemein ein höheres Wohlstandsniveau und zunehmende soziale Sicherheit zur Folge; mit der Entlastung von Lebensrisiken und wachsender existenzieller Sicherheit schwindet für den Einzelnen das Bedürfnis nach einer Praxis, die unbeherrschte Kontingenzen durch die Kommunikation mit einer „jenseitigen“ bzw. kosmischen Macht zu bewältigen verspricht/p>

Die Säkularisierungsthese ist, obwohl sie von den Entwicklungen in den europäischen Wohlstandsgesellschaften bestätigt zu werden scheint, in der soziologischen Fachöffentlichkeit seit mehr als zwei Jahrzehnten umstritten.4 Im Fahrwasser der nicht ganz unbegründeten Kritik an einem eurozentrisch verengten Blickwinkel ist nun sogar vom „Ende der Säkularisierungstheorie“ die Rede.5 Die USA, die ja mit unverändert vitalen Glaubensgemeinschaften und gleichbleibenden Anteilen von religiös gebundenen und aktiven Bürgern gleichwohl die Speerspitze der Modernisierung bilden, galten für lange Zeit als die große Ausnahme vom Säkularisierungstrend. Belehrt durch den global erweiterten Blick auf andere Kulturen und Weltreligionen, erscheinen sie heute eher als der Normalfall. Aus dieser revisionistischen Sicht stellt sich die europäische Entwicklung, die mit ihrem okzidentalen Rationalismus für den Rest der Welt das Modell sein sollte, als der eigentliche Sonderweg dar.6

Die Vitalität des Religiösen
Es sind vor allem drei, einander überlappende Phänomene, die sich zum Eindruck einer weltweiten „resurgence of religion“ verdichten – die missionarische Ausbreitung der großen Weltregionen (a), deren fundamentalistische Zuspitzung (b) und die politische Instrumentalisierung ihrer Gewaltpotentiale (c).

(a) Ein Zeichen von Vitalität ist zunächst der Umstand, dass im Rahmen der bestehenden Religionsgemeinschaften und Kirchen orthodoxe oder jedenfalls konservative Gruppen überall auf dem Vormarsch sind. Das gilt für Hinduismus und Buddhismus ebenso wie für die drei monotheistischen Religionen. Auffällig ist vor allem die regionale Ausbreitung dieser etablierten Religionen in Afrika und in den Ländern Ost- und Südostasiens. Der Missionserfolg hängt offenbar auch von der Beweglichkeit der Organisationsformen ab. Die multikulturelle Weltkirche des römischen Katholizismus passt sich den Globalisierungstrends besser an als die nationalstaatlich verfassten protestantischen Kirchen, die die großen Verlierer sind. Am dynamischsten entfalten sich die dezentralisierten Netzwerke des Islam (vor allem in Afrika unterhalb der Sahara) und der Evangelikalen (vor allem in Lateinamerika). Sie zeichnen sich durch eine ekstatische, von einzelnen charismatischen Figuren entfachte Religiösität aus.

(b) Die am schnellsten wachsenden religiösen Bewegungen wie die Pfingstler und die radikalen Muslime lassen sich am ehesten als „fundamentalistisch“ beschreiben. Sie bekämpfen die moderne Welt oder ziehen sich von ihr zurück. In ihrem Kultus verbinden sich Spiritualismus und Naherwartung mit rigiden Moralvorstellungen und wörtlichem Bibelglauben. Demgegenüber sind die seit den 70er Jahren sprunghaft entstehenden „Neuen religiösen Bewegungen“ eher durch einen „kalifornischen“ Synkretismus geprägt. Mit den Evangelikalen teilen sie allerdings die entinstitutionalisierte Form der religiösen Praxis. In Japan sind ungefähr 400 solcher Sekten entstanden, die Elemente aus Buddhismus und Volksreligion mit pseudowissenschaftlichen und esoterischen Lehren mischen. In der Volksrepublik China haben die staatlichen Repressalien gegen die Falun-Gong-Sekte die Aufmerksamkeit auf die große Zahl von „neuen Religionen“ gelenkt, deren Anhängerschaft dort auf insgesamt 80 Millionen geschätzt wird.7

(c) Das Regime der Mullahs im Iran und der islamische Terrorismus sind nur die spektakulärsten Beispiele für eine politische Entbindung religiöser Gewaltpotentiale. Oft entfacht erst die religiöse Kodierung die Glut von Konflikten, die einen anderen, profanen Ursprung haben. Das gilt für die „Entsäkularisierung“ des Nahostkonflikts ebenso wie für die Politik des Hindunationalismus und den anhaltenden Konflikt zwischen Indien und Pakistan8 oder für die Mobilmachung der religiösen Rechten in den USA vor und während der Invasion des Iraks.

Die postsäkulare Gesellschaft – religiöse Gemeinschaften in säkularer Umgebung
Auf den Streit der Soziologen über den angeblichen Sonderweg der säkularisierten Gesellschaften Europas inmitten einer religiös mobilisierten Weltgesellschaft kann ich nicht im Detail eingehen. Nach meinem Eindruck geben die global erhobenen Vergleichsdaten den Verteidigern der Säkularisierungsthese immer noch eine erstaunlich robuste Rückendeckung.9 Die Schwäche der Säkularisierungstheorie besteht eher in undifferenzierten Schlussfolgerungen, die eine unscharfe Verwendung der Begriffe „Säkularisierung“ und „Modernisierung“ verraten. Richtig bleibt die Aussage, dass sich Kirchen und Religionsgemeinschaften im Zuge der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme zunehmend auf die Kernfunktion der seelsorgerischen Praxis beschränkt haben und ihre umfassenden Kompetenzen in anderen gesellschaftlichen Bereichen aufgeben mussten. Gleichzeitig hat sich die Religionsausübung in individuellere Formen zurückgezogen. Der funktionalen Spezifizierung des Religionssystems entspricht eine Individualisierung der Religionspraxis.

Aber José Casanova hat zu Recht geltend gemacht, dass Funktionsverlust und Individualisierung keinen Bedeutungsverlust der Religion zur Folge haben müssen – weder in der politischen Öffentlichkeit und der Kultur einer Gesellschaft, noch in der persönlichen Lebensführung.10 Unabhängig von ihrem quantitativen Gewicht können Religionsgemeinschaften einen „Sitz“ auch im Leben weithin säkularisierter Gesellschaften behaupten. Auf das öffentliche Bewusstsein in Europa trifft heute insofern die Beschreibung einer „postsäkularen Gesellschaft“ zu, als diese sich einstweilen „auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt“.11 Die veränderte Lesart der Säkularisierungsthese betrifft weniger deren Substanz als vielmehr die Voraussagen über die künftige Rolle „der“ Religion. Die neue Beschreibung moderner Gesellschaften als „postsäkular“ bezieht sich auf einen Bewusstseinswandel, den ich vor allem auf drei Phänomene zurückführe.

Erstens verändert die medial vermittelte Wahrnehmung jener weltweiten Konflikte, die oft als religiöse Gegensätze präsentiert werden, das öffentliche Bewusstsein. Es bedarf nicht einmal der Aufdringlichkeit fundamentalistischer Bewegungen und der Furcht vor dem religiös verbrämten Terrorismus, um der Mehrheit der europäischen Bürger die Relativität der eigenen säkularen Bewusstseinslage im Weltmaßstab vor Augen zu führen. Das verunsichert die säkularistische Überzeugung vom absehbaren Verschwinden der Religion und treibt dem säkularen Weltverständnis jeden Triumphalismus aus. Das Bewusstsein, in einer säkularen Gesellschaft zu leben, verbindet sich nicht länger mit der Gewissheit, dass sich die fortschreitende kulturelle und gesellschaftliche Modernisierung auf Kosten der öffentlichen und personalen Bedeutung von Religion vollziehen wird.

Zweitens gewinnt die Religion auch innerhalb der nationalen Öffentlichkeiten an Bedeutung. Dabei denke ich nicht in erster Linie an die medienwirksame Selbstdarstellung der Kirchen, sondern an den Umstand, dass Religionsgemeinschaften im politischen Leben säkularer Gesellschaften zunehmend die Rolle von Interpretationsgemeinschaften übernehmen.12 Sie können mit relevanten, ob nun überzeugenden oder anstößigen Beiträgen zu einschlägigen Themen auf die öffentliche Meinungs- und Willensbildung Einfluss nehmen. Unsere weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften bilden für solche Interventionen einen empfindlichen Resonanzboden, weil sie in politisch regelungsbedürftigen Wertkonflikten immer häufiger gespalten sind. Im Streit über die Legalisierung von Abtreibung oder Sterbehilfe, über bioethische Fragen der Reproduktionsmedizin, über Fragen des Tierschutzes und des Klimawandels – in diesen und ähnlichen Fragen ist die Argumentationslage so unübersichtlich, dass keineswegs von vornherein ausgemacht ist, welche Partei sich auf die richtigen moralischen Intuitionen berufen kann.

Die einheimischen Konfessionen gewinnen übrigens durch das Auftreten und die Vitalität fremder Religionsgemeinschaften auch selber an Resonanz. Die Muslime von nebenan, wenn ich mich auf das für die Niederlande wie für Deutschland relevante Beispiel beziehen darf, drängen den christlichen Bürgern die Begegnung mit einer konkurrierenden Glaubenspraxis auf. Auch den säkularen Bürgern bringen sie das Phänomen einer öffentlich in Erscheinung tretenden Religion deutlicher zu Bewusstsein.

Die Arbeits- und Flüchtlingsimmigration, vor allem aus Ländern mit traditional geprägten Kulturen, ist der dritte Stimulus eines Bewusstseinswandels der Bevölkerungen. Seit dem 16. Jahrhundert musste Europa lernen, mit den konfessionellen Spaltungen innerhalb der eigenen Kultur und Gesellschaft umzugehen. Im Gefolge der Immigration verbinden sich die schrilleren Dissonanzen zwischen verschiedenen Religionen mit der Herausforderung eines Pluralismus von Lebensformen, die für Einwanderungsgesellschaften typisch ist. Sie reicht über die Herausforderung eines Pluralismus von Glaubensrichtungen hinaus. In den europäischen Gesellschaften, die sich selbst noch im schmerzhaften Prozess der Umwandlung zu postkolonialen Einwanderungsgesellschaften befinden, wird die Frage des toleranten Zusammenlebens verschiedener Religionsgemeinschaften durch das schwierige Problem der gesellschaftlichen Integration von Einwandererkulturen verschärft. Unter Bedingungen globalisierter Arbeitsmärkte muss diese Integration auch noch unter den demütigenden Bedingungen wachsender sozialer Ungleichheit gelingen. Das steht freilich auf einem anderen Blatt.

Was kennzeichnet den Bürger in der postsäkularen Gesellschaft?
Bisher habe ich aus der Sicht des soziologischen Beobachters die Frage zu beantworten versucht, warum wir weithin säkularisierte Gesellschaften gleichwohl „postsäkular“ nennen können. In diesen Gesellschaften behauptet die Religion eine öffentliche Bedeutung, während die säkularistische Gewissheit, dass die Religion im Zuge einer beschleunigten Modernisierung weltweit verschwinden wird, an Boden verliert. Eine ganz andere, nämlich normative Frage drängt sich uns aus der Perspektive von Beteiligten auf: Wie sollen wir uns als Mitglieder einer postsäkularen Gesellschaft verstehen und was müssen wir reziprok voneinander erwarten, damit in unseren historisch fest gefügten Nationalstaaten ein ziviler Umgang der Bürger miteinander auch unter den Bedingungen des kulturellen und weltanschaulichen Pluralismus gewahrt bleibt?

Diese Selbstverständigungsdebatten haben seit dem Schock über die Terroranschläge vom 11. September 2001 eine schärfere Tonart angenommen. Die Diskussion, die in den Niederlanden am 2. November 2004 über den Mord an Theo van Gogh, über Mohammed Bouyeri, den Täter, und über Ayaan Hirsi Ali, das eigentliche Objekt des Hasses, ausgebrochen ist, hatte eine besondere Qualität,13 so dass die Wogen über die nationalen Grenzen hinaus geschwappt sind und eine europaweite Debatte ausgelöst haben.14 Ich habe ein Interesse an den Hintergrundannahmen, die dieser Auseinandersetzung über den „Islam in Europa“ ihre Sprengkraft verleihen. Aber bevor ich auf den philosophischen Kern der reziproken Vorwürfe eingehen kann, muss ich den gemeinsamen Ausgangspunkt der streitenden Parteien – das Bekenntnis zur Trennung von Staat und Kirche – genauer skizzieren.

Die Trennung von Staat und Kirche
Die Säkularisierung der Staatsgewalt war die angemessene Antwort auf die Konfessionskriege der frühen Neuzeit. Das Prinzip der „Trennung von Staat und Kirche“ ist schrittweise und in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen auf jeweils andere Weise realisiert worden. In dem Maße, wie die Staatsgewalt einen säkularen Charakter annahm, erhielten die zunächst nur geduldeten religiösen Minderheiten immer weiter gehende Rechte – nach der Glaubensfreiheit die Bekenntnisfreiheit und schließlich das gleiche Recht auf freie und gleiche Religionsausübung. Der historische Blick auf diesen langwierigen, bis ins 20. Jahrhundert hinein reichenden Prozess kann uns über die Voraussetzungen der kostspieligen Errungenschaft einer inklusiven, für alle Bürger gleichermaßen gültigen Religionsfreiheit belehren.

Nach der Reformation stand der Staat zunächst vor der elementaren Aufgabe, eine konfessionell gespaltene Gesellschaft zu befrieden, also Ruhe und Ordnung herzustellen. Im Kontext der gegenwärtigen Debatte erinnert die niederländische Autorin Margriet de Moor ihre Landsleute an diese Anfänge: „Toleranz wird oft im selben Atemzug mit Respekt genannt, doch unserer Toleranz, die ihre Wurzeln im 16. und 17. Jahrhundert hat, liegt kein Respekt zugrunde, im Gegenteil. Wir haben die Religion des anderen gehasst, Katholiken und Calvinisten hatten keinen Funken Respekt vor den Anschauungen der anderen Seite, und unser achtzigjähriger Krieg war nicht nur ein Aufstand gegen Spanien, sondern auch ein blutiger Dschihad der orthodoxen Calvinisten gegen den Katholizismus“.15 Wir werden sehen, welche Art von Respekt Margriet de Moor im Sinn hat.

Im Hinblick auf Ruhe und Ordnung war die Staatsgewalt, auch wenn sie mit der im Lande herrschenden Religion noch verflochten blieb, zu weltanschaulich neutralem Handeln genötigt. Sie musste die streitenden Parteien entwaffnen, Arrangements für ein friedlich-schiedliches Zusammenleben der verfeindeten Konfessionen erfinden und deren prekäres Nebeneinander überwachen. In der Gesellschaft konnten sich die gegnerischen Subkulturen dann so einnisten, dass sie füreinander Fremde blieben. Genau dieser Modus Vivendi – und darauf kommt es mir an – erwies sich als unzureichend, als aus den Verfassungsrevolutionen des späten 18. Jahrhunderts eine neue politische Ordnung hervorging, welche eine vollständig säkularisierte Staatsgewalt gleichzeitig der Herrschaft der Gesetze und dem demokratischen Willen des Volkes unterwarf.

Staatsbürger und Gesellschaftsbürger
Dieser Verfassungsstaat kann den Bürgern gleiche Religionsfreiheit nur unter der Auflage garantieren, dass sie sich nicht länger in den integralen Lebenswelten ihrer Religionsgemeinschaften verschanzen und gegeneinander abschotten. Die Subkulturen müssen ihre individuellen Mitglieder aus der Umklammerung entlassen, damit diese sich in der Zivilgesellschaft gegenseitig als Staatsbürger, das heißt als die Träger und Mitglieder desselben politischen Gemeinwesens anerkennen können. Als demokratische Staatsbürger geben sie sich selbst die Gesetze, unter denen sie als private Gesellschaftsbürger ihre kulturelle und weltanschauliche Identität bewahren und gegenseitig respektieren können. Dieses neue Verhältnis von demokratischem Staat, Zivilgesellschaft und subkultureller Eigenständigkeit ist der Schlüssel zum richtigen Verständnis der beiden Motive, die heute miteinander konkurrieren, obwohl sie sich ergänzen sollten. Das universalistische Anliegen der politischen Aufklärung widerspricht nämlich keineswegs den partikularistischen Sensibilitäten eines richtig verstandenen Multikulturalismus.

Bereits der liberale Staat gewährleistet die Religionsfreiheit als Grundrecht, so dass religiöse Minderheiten nicht mehr nur geduldet und vom Wohlwollen einer mehr oder weniger toleranten Staatsmacht abhängig sind. Aber erst der demokratische Staat ermöglicht die unparteiliche Anwendung dieses Prinzips.16 Im Einzelfall, wenn die türkischen Gemeinden in Berlin, Köln oder Frankfurt ihre Gebetshäuser aus den Hinterhöfen herausholen möchten, um weithin sichtbare Moscheen zu errichten, geht es nicht mehr um das Prinzip als solches, sondern um dessen faire Anwendung. Einleuchtende Gründe für die Definition dessen, was toleriert werden soll oder nicht mehr toleriert werden kann, lassen sich aber nur mit Hilfe des deliberativen und inklusiven Verfahrens einer demokratischen Willensbildung herausfinden. Das Toleranzprinzip wird vom Verdacht einer hochfahrenden Duldung erst befreit, wenn die Konfliktparteien auf gleicher Augenhöhe zu einer Verständigung miteinander gelangen.17 Wie die Grenze zwischen der positiven Religionsfreiheit, also dem Recht, den eigenen Glauben auszuüben, und dem negativen Freiheitsrecht, von den religiösen Praktiken Andersgläubiger verschont zu bleiben, im konkreten Fall gezogen werden soll, ist immer umstritten. Aber in einer Demokratie sind die Betroffenen – wie indirekt auch immer – selbst am Entscheidungsprozess beteiligt.

„Toleranz“ ist freilich nicht nur eine Frage von Rechtsetzung und Rechtsanwendung; sie muss im Alltag praktiziert werden. Toleranz heißt, dass sich Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige gegenseitig Überzeugungen, Praktiken und Lebensformen zugestehen, die sie selbst ablehnen. Dieses Zugeständnis muss sich auf eine gemeinsame Basis gegenseitiger Anerkennung stützen, auf der sich abstoßende Dissonanzen überbrücken lassen. Diese Anerkennung darf nicht mit der Wertschätzung der fremden Kultur und Lebensart, der abgelehnten Überzeugungen und Praktiken verwechselt werden.18 Toleranz brauchen wir nur gegenüber Weltanschauungen zu üben, die wir für falsch halten, und gegenüber Lebensgewohnheiten, die wir nicht goutieren. Anerkennungsbasis ist nicht die Wertschätzung dieser oder jener Eigenschaften und Leistungen, sondern das Bewusstsein, einer inklusiven Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger anzugehören, in der einer dem anderen für seine politischen Äußerungen und Handlungen Rechenschaft schuldet.19

Das ist leichter gesagt als getan. Die gleichmäßige zivilgesellschaftliche Inklusion aller Bürger erfordert ja nicht nur eine politische Kultur, die davor bewahrt, Liberalität mit Indifferenz zu verwechseln. Sie kann nur gelingen, wenn auch bestimmte materielle Voraussetzungen erfüllt sind – unter anderem eine Integration in Kindergarten, Schule und Hochschule, die soziale Nachteile ausgleicht, und ein chancengleicher Zugang zum Arbeitsmarkt. Aber in unserem Zusammenhang kommt es mir vor allem auf das Bild einer inklusiven Bürgergesellschaft an, in der sich staatsbürgerliche Gleichheit und kulturelle Differenz auf die richtige Weise ergänzen.

Solange beispielsweise ein erheblicher Teil der deutschen Staatsbürger türkischer Herkunft und muslimischen Glaubens politisch stärker in der alten als in der neuen Heimat lebt, fehlen in der Öffentlichkeit und an der Wahlurne die korrigierenden Stimmen, die nötig wären, um die herrschende politische Kultur zu erweitern. Ohne eine zivilgesellschaftliche Inklusion der Minderheiten können sich die beiden komplementären Prozesse nicht im gleichen Schritt entfalten – die differenzempfindliche Öffnung des politischen Gemeinwesens für die gleichberechtigte Einbeziehung fremder Subkulturen auf der einen Seite und die liberale Öffnung dieser Subkulturen für die gleichberechtigte individuelle Teilnahme ihrer Mitglieder am demokratischen Prozess auf der anderen Seite.

„Aufklärungsfundamentalismus“ versus „Multikulturalismus“: der neue Kulturkampf und seine Parolen
Für die Beantwortung der Frage, wie wir uns als Mitglieder einer postsäkularen Gesellschaft verstehen sollen, kann das Bild dieser ineinandergreifenden Prozesse als ein Wegweiser dienen. Aber die ideologischen Parteien, die sich heute in der öffentlichen Debatte gegenüberstehen, nehmen davon kaum Notiz. Die eine Partei betont den Schutz kollektiver Identitäten und macht der Gegenseite einen „Aufklärungsfundamentalismus“ zum Vorwurf, während diese Partei wiederum auf einer kompromisslosen Einbeziehung der Minderheiten in die bestehende politische Kultur beharrt und der Gegenseite einen aufklärungsfeindlichen „Multikulturalismus“ vorwirft.

Die sogenannten Multikulturalisten kämpfen für eine differenzempfindliche Anpassung des Rechtssystems an den Anspruch kultureller Minderheiten auf Gleichbehandlung. Sie warnen vor erzwungener Assimilation und Entwurzelung. Der säkulare Staat darf die Eingliederung der Minderheiten in die egalitäre Gemeinschaft der Staatsbürger nicht so robust betreiben, dass sie die Einzelnen aus ihren identitätsprägenden Kontexten herausreißt. Aus dieser kommunitaristischen Sicht steht die Politik im Verdacht, die Minderheiten den Imperativen der Mehrheitskultur zu unterwerfen. Inzwischen weht allerdings den Multikulturalisten der Wind ins Gesicht: „Nicht nur Akademiker, sondern auch Politiker und Zeitungskolumnisten sehen die Aufklärung als Festung, die gegen den islamischen Extremismus verteidigt werden muss.“20 Das wiederum ruft die Kritik am „Aufklärungsfundamentalismus“ auf den Plan. So gibt etwa Timothy Garton Ash in der „New York Review of Books“ (vom 5. Oktober 2006) zu bedenken, dass „auch muslimische Frauen der Art und Weise widersprechen, mit der Hirsi Ali ihre Unterdrückung dem Islam ankreidet anstatt der jeweiligen nationalen, regionalen oder Stammeskultur.“21 Tatsächlich können die muslimischen Einwanderer nicht gegen ihre Religion, sondern nur mit dieser in eine westliche Gesellschaft integriert werden.

Auf der anderen Seite kämpfen die Säkularisten für eine farbenblinde politische Inklusion aller Bürger, ohne Rücksicht auf deren kulturelle Herkunft und religiöse Zugehörigkeit. Diese Seite warnt vor den Folgen einer Identitätspolitik, die das Rechtssystem für die Bewahrung der Eigenart kultureller Minderheiten zu weit öffnen. Aus dieser laizistischen Sicht muss Religion ausschließlich Privatsache bleiben. So lehnt Pascal Bruckner kulturelle Rechte ab, weil diese angeblich Parallelgesellschaften erzeugen – „kleine, abgeschottete Gesellschaftsgruppen, die jede für sich eine andere Norm befolgen.“22 Indem Bruckner den Multikulturalismus in Bausch und Bogen als einen „Rassismus des Antirassismus“ verurteilt, trifft er allerdings nur jene Ultras, die für die Einführung kollektiver Schutzrechte plädieren. Ein solcher Artenschutz für ganze kulturelle Gruppen würde tatsächlich den individuellen Mitgliedern das Recht auf eine eigene Lebensgestaltung beschneiden.23

Beide Parteien wollen ein zivilisiertes Zusammenleben autonomer Bürger im Rahmen einer liberalen Gesellschaft, und doch tragen sie miteinander einen Kulturkampf aus, der sich bei jedem politischen Anlass von neuem aufschaukelt. Obgleich die Zusammengehörigkeit beider Aspekte klar ist, streiten sie darüber, ob die Bewahrung der kulturellen Identität oder die staatsbürgerliche Integration Vorrang haben soll. Polemische Schärfe gewinnt die Auseinandersetzung aus philosophischen Prämissen, die sich die Gegner zu Recht oder zu Unrecht reziprok zuschreiben. Ian Buruma hat die interessante Beobachtung gemacht, dass nach dem 11. September 2001 ein bis dahin akademisch geführter Streit über Aufklärung und Gegenaufklärung aus den Universitäten heraus auf die Marktplätze gelangt ist.24 Erst die problematischen Überzeugungen im Hintergrund – ein vernunftkritisch aufgemöbelter Kulturrelativismus auf der einen, ein religionskritisch erstarrter Säkularismus auf der anderen Seite – heizen die Debatte an.

Der Relativismus der radikalen Multikulturalisten
Die radikale Lesart des Multikulturalismus stützt sich oft auf die falsche Vorstellung einer „Inkommensurabilität“ von Weltbildern, Diskursen oder Begriffsschemata. Aus dieser kontextualistischen Sicht erscheinen auch kulturelle Lebensformen als semantisch geschlossene Universen, die ihre jeweils eigenen, unvergleichbaren Rationalitätsmaßstäbe und Wahrheiten im Griff behalten. Deshalb soll jede Kultur als ein für sich seiendes, semantisch versiegeltes Ganzes von einer diskursiven Verständigung mit anderen Kulturen abgeschnitten sein. Außer wackligen Kompromissen soll in Auseinandersetzungen nur die Alternative zwischen Unterwerfung und Konversion bestehen. Unter dieser Prämisse können sich auch in universalistischen Geltungsansprüchen – so etwa in den Argumenten für die allgemeine Geltung von Demokratie und Menschenrechten – nur die imperialistischen Machtansprüche einer herrschenden Kultur verbergen.

Ironischerweise beraubt sich diese relativistische Lesart ungewollt der Maßstäbe für eine Kritik an der Ungleichbehandlung von kulturellen Minderheiten. In unseren postkolonialen Einwanderungsgesellschaften geht die Diskriminierung von Minderheiten für gewöhnlich auf vorherrschende kulturelle Selbstverständlichkeiten zurück, die zu einer selektiven Anwendung der etablierten Verfassungsprinzipien führen. Wenn man dann aber den universalistischen Sinn dieser Prinzipien gar nicht erst ernst nimmt, fehlen die Gesichtspunkte, unter denen sich eine illegitime Verfilzung der Verfassungsinterpretation mit Vorurteilen der Mehrheitskultur überhaupt erst entdecken lässt.

Auf die philosophische Unhaltbarkeit der kulturrelativistischen Vernunftkritik brauche ich hier nicht weiter einzugehen.25 Aber diese Position ist noch aus einem anderen Grunde interessant; sie erklärt einen merkwürdigen politischen Seitenwechsel. Im Anblick des islamistischen Terrors haben sich manche linke „Multikulturalisten“ in kriegsbegeisterte liberale Falken verwandelt und sind sogar mit neokonservativen „Aufklärungsfundamentalisten“ ein unerwartetes Bündnis eingegangen.26 Offenbar konnten sich diese Konvertiten im Kampf gegen die Islamisten die einst bekämpfte Aufklärungskultur (ähnlich wie die Konservativen) umso leichter als „westliche Kultur“ zu eigen machen, weil sie deren universalistischen Anspruch schon immer abgelehnt hatten: „Die Aufklärung ist besonders deswegen attraktiv [geworden], weil deren Werte nicht bloß universal sind, sondern weil es ‚unsere‘, das heißt europäische, westliche Werte sind.“27

Diese Kritik bezieht sich natürlich nicht auf jene laizistischen Intellektuellen französischer Herkunft, auf die der Vorwurf des „Aufklärungsfundamentalismus“ ursprünglich gemünzt war. Auch bei diesen Hütern einer universalistisch begriffenen Aufklärungstradition erklärt sich freilich die gewisse Militanz aus einer fragwürdigen philosophischen Hintergrundannahme. Die Religion muss sich – gemäß dieser religionskritischen Lesart – aus der politischen Öffentlichkeit in den Privatbereich zurückziehen, weil sie, kognitiv betrachtet, eine historisch überwundene „Gestalt des Geistes“ ist. Unter normativen Gesichtspunkten einer liberalen Ordnung muss sie zwar geduldet werden, aber sie kann nicht den Anspruch erheben, als kulturelle Ressource für das Selbstverständnis moderner Zeitgenossen ernst genommen zu werden.

Diese philosophische Aussage ist unabhängig davon, wie man die deskriptive Feststellung beurteilt, dass die Religionsgemeinschaften auch in weitgehend säkularisierten Gesellschaften relevante Beiträge zur politischen Meinungs- und Willensbildung leisten. Auch wenn man die Beschreibung „postsäkular“ für westeuropäische Gesellschaften empirisch für richtig hält, kann man aus philosophischen Gründen davon überzeugt sein, dass Religionsgemeinschaften ihren bleibenden Einfluss nur dem zähen – soziologisch erklärbaren – Überleben vormoderner Denkweisen verdanken. Religiöse Glaubensinhalte sind aus der Sicht der Säkularisten so oder so wissenschaftlich diskreditiert. Dieser Charakter des wissenschaftlich Nichtdiskutablen reizt sie zur Polemik in der Auseinandersetzung mit religiösen Überlieferungen und mit religiösen Zeitgenossen, die noch eine öffentliche Bedeutung beanspruchen.

Säkular oder säkularistisch
Terminologisch unterscheide ich zwischen „säkular“ und „säkularistisch“. Im Unterschied zur indifferenten Einstellung einer säkularen oder ungläubigen Person, die sich gegenüber religiösen Geltungsansprüchen agnostisch verhält, nehmen Säkularisten gegenüber religiösen Lehren, die trotz ihrer wissenschaftlich nicht begründbaren Ansprüche öffentliche Bedeutung genießen, eine polemische Einstellung ein. Heute stützt sich der Säkularismus oft auf einen harten, das heißt szientistisch begründeten Naturalismus. Anders als beim Kulturrelativismus brauche ich in diesem Falle zum philosophischen Hintergrund nicht Stellung zu nehmen.28 Denn in unserem Zusammenhang interessiert mich die Frage, ob sich eine säkularistische Abwertung der Religion, wenn sie eines Tages von der großen Mehrheit der säkularen Bürger geteilt würde, mit dem skizzierten Verhältnis von staatsbürgerlicher Gleichheit und kultureller Differenz überhaupt vereinbar ist. Oder wäre die säkularistische Bewusstseinslage eines relevanten Teils der Bürger für das normativ ausgezeichnete Selbstverständnis einer postsäkularen Gesellschaft ebenso wenig bekömmlich wie die fundamentalistische Neigung einer Masse religiöser Bürger? Diese Frage rührt an tiefere Quellen des Unbehagens als jedes „multikulturalistische Drama“.

Die Säkularisten haben das Verdienst, energisch auf der Unverzichtbarkeit der gleichmäßigen zivilgesellschaftlichen Inklusion aller Bürger zu bestehen. Weil eine demokratische Ordnung ihren Trägern nicht einfach auferlegt werden kann, konfrontiert der Verfassungsstaat seine Bürger mit Erwartungen eines Staatsbürgerethos, das über bloßen Gesetzesgehorsam hinauszielt. Auch religiöse Bürger und Religionsgemeinschaften dürfen sich nicht nur äußerlich anpassen. Sie müssen sich die säkulare Legitimation des Gemeinwesens unter den Prämissen ihres eigenen Glaubens zu eigen machen.29 Die katholische Kirche hat sich bekanntlich erst mit dem zweiten Vaticanum im Jahre 1965 zu Liberalismus und Demokratie bekannt. Und in Deutschland haben es die protestantischen Kirchen auch nicht viel anders gehalten. Dieser schmerzhafte Lernprozess steht dem Islam noch bevor. Auch in der islamischen Welt wächst die Einsicht, dass heute ein historisch-hermeneutischer Zugang zu den Lehren des Koran nötig ist. Die Diskussion über einen erwünschten Euro-Islam bringt uns jedoch erneut zu Bewusstsein, dass es letztlich die religiösen Gemeinden sind, die selbst darüber entscheiden werden, ob sie in einem reformierten Glauben den „wahren Glauben“ wiedererkennen können.30

Wir stellen uns das Reflexivwerden des religiösen Bewusstseins nach dem Vorbild jenes Wandels epistemischer Einstellungen vor, wie er sich seit der Reformation in den christlichen Kirchen des Westens vollzogen hat. Eine solche Mentalitätsänderung lässt sich nicht verordnen, nicht politisch steuern oder rechtlich erzwingen, sie ist bestenfalls das Ergebnis eines Lernprozesses. Und als „Lernprozess“ erscheint er auch nur aus der Sicht eines säkularen Selbstverständnisses der Moderne. Bei solchen kognitiven Voraussetzungen für ein demokratisches Staatsbürgerethos stoßen wir an die Grenzen einer normativen politischen Theorie, die Pflichten und Rechte begründet. Lernprozesse können gefördert, nicht moralisch oder rechtlich gefordert werden.31

Dialektik der Aufklärung: Säkularisierung als komplementärer Lernprozess
Aber müssen wir nicht den Spieß auch umdrehen? Ist ein Lernprozess nur auf der Seite des religiösen Traditionalismus und nicht auch auf der des Säkularismus nötig? Verbieten nicht dieselben normativen Erwartungen, die wir an eine inklusive Bürgergesellschaft richten, eine säkularistische Abwertung der Religion ebenso wie beispielsweise die religiöse Ablehnung der Gleichstellung von Mann und Frau? Ein komplementärer Lernprozess ist auf der säkularen Seite jedenfalls dann nötig, wenn wir die Neutralisierung der Staatsgewalt nicht mit dem Ausschluss religiöser Äußerungen aus der politischen Öffentlichkeit verwechseln. Gewiss, die Domäne des Staates, der über die Mittel legitimer Zwangsmaßnahmen verfügt, darf sich nicht für den Streit unter diversen Glaubensgemeinschaften öffnen, sonst könnte die Regierung zum Vollzugsorgan einer religiösen Mehrheit werden, die der Opposition ihren Willen aufzwingt. Im Verfassungsstaat müssen alle legal durchsetzbaren Normen in einer Sprache formuliert und öffentlich gerechtfertigt werden können, die alle Bürger verstehen. Die weltanschauliche Neutralität des Staates spricht freilich nicht gegen die Zulassung religiöser Äußerungen zur politischen Öffentlichkeit, wenn die institutionalisierten Beratungs- und Entscheidungsprozesse auf der Ebene der Parlamente, Gerichte, Ministerien und Verwaltungsbehörden deutlich von der informellen Teilnahme der Bürger an öffentlicher Kommunikation und Meinungsbildung geschieden bleibt. Die „Trennung von Staat und Kirche“ verlangt zwischen diesen beiden Sphären einen Filter, der nur „übersetzte“, also säkulare Beiträge aus dem babylonischen Stimmengewirr der Öffentlichkeit zu den Agenden der staatlichen Institutionen durchlässt.

Zwei Gründe sprechen für eine solche liberale Öffnung. Zum einen müssen sich Personen, die weder willens noch fähig sind, ihre moralischen Überzeugungen und ihren Wortschatz in profane und sakrale Anteile aufzuspalten, auch in religiöser Sprache an der politischen Meinungsbildung beteiligen dürfen. Zum anderen sollte der demokratische Staat die polyphone Komplexität der öffentlichen Stimmenvielfalt nicht vorschnell reduzieren, weil er nicht wissen kann, ob er die Gesellschaft sonst nicht von knappen Ressourcen der Sinnund Identitätsstiftung abschneidet. Besonders im Hinblick auf verwundbare Bereiche des sozialen Zusammenlebens verfügen religiöse Traditionen über die Kraft, moralische Intuitionen überzeugend zu artikulieren. Was den Säkularismus in Bedrängnis bringt, ist dann aber die Erwartung, dass die säkularen Bürger in Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit ihren religiösen Mitbürgern als religiösen Bürgern auf gleicher Augenhöhe begegnen sollen.

Säkulare Bürger, die ihren Mitbürgern mit dem Vorbehalt begegnen würden, dass diese aufgrund ihrer religiösen Geisteshaltung nicht als moderne Zeitgenossen ernst genommen werden können, fielen auf die Ebene eines bloßen Modus Vivendi zurück und verließen damit die Anerkennungsbasis der gemeinsamen Staatsbürgerschaft. Sie dürfen nicht a fortiori ausschließen, auch in religiösen Äußerungen semantische Gehalte, vielleicht sogar verschwiegene eigene Intuitionen zu entdecken, die sich übersetzen und in eine öffentliche Argumentation einbringen lassen. Wenn alles gut gehen soll, müssen sich also beide Seiten, jeweils aus ihrer Sicht, auf eine Interpretation des Verhältnisses von Glauben und Wissen einlassen, die ihnen ein selbstreflexiv aufgeklärtes Miteinander möglich macht.

* Dieser Text lag einem Vortrag zugrunde, den der Verfasser am 15. März 2007 im Rahmen der Veranstaltungen des Nexus Instituts an der Universität Tilburg, Niederlande, gehalten hat.
1 Dokumentiert in: „Blätter“, 3/2007, S. 122-124.
2 Detlef Pollack, Säkularisierung – ein moderner Mythos? Tübingen 2003.
3 Hans Joas, Gesellschaft, Staat und Religion, in: ders. (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a. M. 2007, S. 9-43; vgl. auch ders., Die Zukunft des Christentums, in: „Blätter“, 8/2007, S. 976-984.
4. Jeffrey K. Hadden, Towards desacralizing secularization theory, in: „Social Force“, 65 (1987), S. 587-611.
5 Joas, Gesellschaft, Staat und Religion, a.a.O.
6 Peter L. Berger, in: ders. (Hg.), The Desecularization of the World: A Global Overview, Grand Rapids/ MI 2005, S. 1-18.
7 Joachim Gentz, Die religiöse Lage in Ostasien, in: Joas (Hg.), a.a.O., S. 358-375.
8 Vgl. die Beiträge von Hans G. Kippenberg und Heinrich v. Stietencron in: Joas (Hg.), a.a.O., S. 465-507 und S. 194-223.
9 Pippa Norris und Ronald Ingelhart, Sacred and Secular: Religion and Politics Worldwide, Cambridge 2004.
10 Jose Casanova, Public religions in the Modern World, Chicago 1994.
11 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a. M. 2001, S. 13.
12 So Francis Schüssler Fiorenza, The Church as a Community of Interpretation, in: Don S. Browning und Francis Schüssler Fiorenza (Hg.), Habermas, Modernity and Public Theology, New York 1992, S. 66-91.
13 Geert Mak, Der Mord an Theo van Gogh. Geschichte einer moralischen Panik, Frankfurt a. M. 2005.
14 Thierry Chervel und Anja Seeliger (Hg.), Islam in Europa, Frankfurt a. M. 2007.
15 Margriet de Moor, Alarmglocken, die am Herzen hängen, in: ebd., S. 211.
16 Zur Geschichte und systematischen Analyse vgl. die umfassende Arbeit von Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, Frankfurt a. M. 2003.
17 Jürgen Habermas, Religiöse Toleranz als Schrittmacher kultureller Rechte, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. 2005, S. 258-278.
18 Vgl. meine Auseinandersetzung mit Charles Taylors, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a. M. 1993, in: Jürgen Habermas, Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M. 1996, S. 237-276.
19 Zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft vgl. John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M. 1998, S. 312-366.
20 Ian Buruma, Die Grenzen der Toleranz, München 2006, S. 34.
21 Timothy Garton Ash, zit. nach Chervel und Seeliger (Hg.), a.a.O., S. 45 f.
22 Pascal Bruckner, in: ebd., S. 67.
23 Ebd., S. 62: „Der Multikulturalismus gewährt allen Gemeinschaften die gleiche Behandlung, nicht aber den Menschen, aus denen sie sich zusammensetzen, denn er verweigert ihnen die Freiheit, sich von ihren eigenen Traditionen loszusagen.“ Dazu: Brian Barry, Culture and Equality (Polity), Cambridge 2001 und Jürgen Habermas, Kulturelle Gleichbehandlung und die Grenzen des Postmodernen Liberalismus, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. 2005, S. 279-323.
24 Ian Buruma, a.a.O., S. 34.
25 Die entscheidende Kritik an der Inkommensurabilitätsthese geht schon zurück auf die berühmte Presidential Address von Donald Davidson aus dem Jahre 1973 „On the very Idea of a Conceputal Scheme“ [Deutsch: Was ist eigentlich ein Begriffsschema? In: Donald Davidson und Richard Rorty, Wozu Wahrheit? Frankfurt a. M. 2005, S. 7-26].
26 Vgl. hierzu Anatol Lieven, Liberal Hawk Down – Wider die linken Falken, in: „Blätter“, 12/2004, S. 1447-1457.
27 Ian Buruma, a.a.O., S. 34. Buruma beschreibt auf S. 123 f. die Motive der linken Konvertiten einleuchtend so: „Die Muslime sind die Spielverderber, die uneingeladen auf der Party auftauchen. […] Die Toleranz hat also sogar für Hollands Progressive Grenzen. Es ist leicht, gegenüber denjenigen tolerant zu sein, bei denen wir instinktiv das Gefühl haben, ihnen trauen zu können, deren Witze wir verstehen, die unsere Auffassung von Ironie teilen. [...] Es ist viel schwieriger, dieses Prinzip auf Menschen in unserer Mitte anzuwenden, die unsere Lebensweise so verstörend finden wie wir die ihre.“
28 Vgl. die Kritik in meinen Beiträgen zu Hans Peter Krüger (Hg.), Hirn als Subjekt? Philosophische Grenzfragen der Neurobiologie, Berlin 2007, S. 101-120 und 263-304.
29 Darum geht es John Rawls, wenn er für die normative Substanz der Verfassungsordnung einen overlapping consensus zwischen den Weltanschauungsgruppen verlangt (Rawls, a.a.O., S. 219-264).
30 Ian Buruma, Wer ist Tariq Ramadan, in: Chervel und Seeliger (Hg.), a.a.O., S. 88-110; Bassam Tibi, Der Euro-Islam als Brücke zwischen Islam und Europa, in: ebd., S. 183-199; vgl. auch Tariq Ramadan, „Ihr bekommt die Muslime, die Ihr verdient“. Euro-Islam und muslimische Renaissance, in: „Blätter“, 6/2006, S. 673-685.
31 Zum Folgenden vgl. Jürgen Habermas, Religion in der Öffentlichkeit, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. 2005, S. 119-154.

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