Am 23. Juni 2008 um 15.05 Uhr ist es zu einer denkwürdigen Begegnung gekommen. Tariq Ramadan, einer der umstrittensten Kämpfer für die europäischen Muslime, begrüßte mit einem Handschlag Jürgen Habermas, den Cheftheoretiker der Neuen Unübersichtlichkeit. Danach kam es nicht etwa zu einem Streitgespräch oder zu einem Dialog. Das hatte die Regie der auch sonst höchst prominent besetzten Tagung "Muslims and Jews in Christian Europe" nicht vorgesehen. Ramadan hielt einen etwa zwanzigminütigen Vortrag, und Habermas stellte ihm im Anschluss daran ein paar Fragen. Habermas sprach von einer nicht gerade gleichwertigen Verteilung der Rollen. Es war dennoch eine sehr eindrückliche Veranstaltung.
Tariq Ramadan ging aus von Umfragen, die ergeben, dass 80 Prozent der in Europa lebenden Einwanderer aus muslimischen Ländern keine praktizierenden Moslems sind. Für sie stellen sich also die meisten der so gern als Integrationsprobleme ins Feld geführten religiösen Fragen nicht. Sie werden dennoch argwöhnisch beobachtet und einem Klima des Verdachts ausgesetzt. Es genügt nicht, Steuern, Kranken- und Sozialversicherung zu bezahlen, seine Pflichten als Staatsbürger zu erfüllen, gesetzestreu zu sein. Hat man eine andere Hautfarbe, trägt man einen fremden Namen, tut man sich gar schwer mit der Landessprache, werden immer neue Loyalitätsbeweise verlangt.
In den Niederlanden wird darüber diskutiert, dass man ja nicht wisse, was die Einwandererkinder zuhause erzählt bekommen und in welcher Sprache? Tariq Ramadan lächelt ironisch: "Wo bleibt die Trennung von privat und öffentlich? Wo bleibt der Schutz der Privatsphäre?" Er weist auch darauf hin, dass es gerade die Aufgabe der liberalen Öffentlichkeit sein müsste, diese wesentlichen Elemente einer Zivilgesellschaft zu schützen. Es geht ihm darum, dass alle Bürger dieselben Rechte haben.
Die Realität sieht anders aus: Die Einwanderer sind Bürger zweiter Klasse. Für sie gelten nicht die Regeln, die für die Eingeborenen gelten. Das ist nicht, so betont Ramadan mit hochgezogener Augenbraue, was die Europäer als europäischen Wert bezeichnen. Europa braucht die Einwanderer. Es kann sich seinen Lebensstandard ohne sie nicht leisten. Also muss es mit ihnen leben. Europa muss begreifen, dass die Integration der Muslime kein Projekt mehr ist, sondern Realität. Die europäische Identität, so Ramadan, hat sich in den letzten Jahrzehnten radikal verändert. Die Muslime und der Islam gehören inzwischen dazu. Es ist kurios, dass man angesichts der Möglichkeit der Aufnahme der Türkei in die europäische Union eine Debatte darüber führt, ob Europa ein islamisches Land - zudem noch ein säkularer Staat - verkraften könne, während längst Millionen Muslime gute Europäer geworden sind. Sie sind jedenfalls bessere, tolerantere, offenere Europäer als die Europäer selbst es während eines Großteils ihrer Geschichte waren: "Man verlangt von uns bessere Europäer zu sein, als die Europäer selbst es sind."
Europa muss sich ein neues Bild von sich machen. Wer heute in Europa von "wir" und "denen" spricht, der muss begreifen, dass "die" längst zum "wir" gehören. Ein Europa ohne Muslime ist unmöglich geworden.
Jürgen Habermas antwortete sichtlich beeindruckt. Man müsse verstehen, dass Europa sich schwer tue mit den Muslimen. Die christlich-säkulare Mehrheitskultur wisse - gerade in Deutschland -, wie lange der Weg zu den europäischen Werten sei, wie viele Rückschläge es gegeben habe. Wie sehr man immer wieder auch auf Druck von Außen angewiesen gewesen sei, um Toleranz lernen zu können. Das Misstrauen gegenüber den Neuankömmlingen habe seine Wurzel auch im Misstrauen gegenüber sich selbst. Es rühre auch her aus der Erfahrung, die man mit sich selbst gemacht habe. Dann stellt Jürgen Habermas Tariq Ramadan die Frage: "Was halten Sie von den Überlegungen des Erzbischofs von Canterbury, den britischen Muslimen zu erlauben, in bestimmten Fragen sich der Scharia und nicht den britischen Gerichten stellen zu können?"
Ramadans Antwort: "Der Erzbischof hat sich nicht für eine Parallelgerichtsbarkeit ausgesprochen. Also nicht für die Idee, dass muslimische Briten nach muslimischem Gesetz gerichtet werden und die anderen nach dem common law. Es geht vielmehr darum, ob innerhalb des common law nicht spezifische Gerichtshöfe eingerichtet werden für spezifische Gruppen. Das gibt es für bestimmte Fragen in Großbritannien schon. Zum Beispiel für jüdische Gemeinden. Der Erzbischof meinte nur, dass das auch für Muslime möglich sein müsste. Ich finde, er hat damit recht. Es ist also, das ist meine Antwort, legal. Aber ich halte es für überflüssig. Wir brauchen keine eigenen Gerichtshöfe. Abgesehen davon glaube ich, dass mir die Rechtssprüche solcher muslimischer Gelehrten oft nicht gerade recht sein werden."
Im Publikum war auch Ian Buruma, der aus Holland stammende Schriftsteller. Er fragte Tariq Ramadan, warum er sich für ein Moratorium von Steinigungen in muslimischen Ländern ausgesprochen habe, statt sie zu verurteilen. "Ich bin gegen Steinigungen. Ich bin auch gegen die Todesstrafe und gegen Folter und körperliche Züchtigung. Das habe ich immer wieder deutlich gesagt. Kein Staat der Welt wird sie aber, weil ich, weil wir es fordern, abschaffen. Also habe ich, damit niemand weiter zu Schaden kommt, wenigstens ein Moratorium gefordert. Der Mufti von Ägypten hat das für eine vernünftige Überlegung erklärt, andere wichtige islamische Stimmen haben sich dem angeschlossen. Ich halte Steinigung, Todesstrafe, körperliche Züchtigung für unislamisch. Es gibt eine Reihe von bekannten Muslimen, die das genauso sehen. Wenn Sie sich die Debatte in den USA um die Todesstrafe ansehen, werden Sie merken, dass da Moratorien immer wieder eine wichtige Rolle gespielt haben." Tariq Ramadan ist sehr erregt. Er hebt seine Stimme. Nur wenige wissen, dass hier auch ein privater Konflikt berührt wird.
Sein Bruder Hani Ramadan hat die Steinigung von Ehebrecherinnen öffentlich verteidigt und musste daraufhin Anfang dieses Jahres aus den Diensten des Kantons Genf austreten. Tariq Ramadans Großvater war Hassan al-Banna, einer der Begründer der ägyptischen Moslembrüderschaft, einer der wichtigsten islamischen Reformbewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er wurde 1949 von den ägyptischen Behörden ermordet. Tariqs Vater Said Ramadan musste 1954 nach Europa fliehen. Er wurde in Köln promoviert und war einer der bekanntesten islamischen Propagandisten in Europa. Die Ramadans sind heute in dritter Generation mit der Frage nach dem Verhältnis von Europa-Moderne-Islam befasst. Wenn demnächst vielleicht eine europäische Geschichte geschrieben wird, deren Ausgangspunkt das heutige Europa und nicht die Idee eines vergangenen christlichen Europas ist, werden die Ramadans darin eine zentrale Rolle spielen.
Es hat lange gedauert, bis man in Deutschland begriff, dass es die deutschen Juden waren, die zuerst Deutsche waren. Die meisten Deutschen fühlten sich als Hessen, Frankfurter, Bayern, Pfälzer, bevor sie sich als Deutsche begriffen. Die Juden hatte keine Chance, sich als Bayern zu begreifen. Sie wollten Deutsche sein. Vielleicht befindet sich Europa heute in einer ähnlichen Situation. Die Iren sind zuallererst Iren, die Dänen Dänen, die Deutschen Deutsche, die Belgier zuerst Flamen oder Wallonen; den Einwanderern, denen es verwehrt wird, Iren, Dänen, Deutsche zu werden, von denen aber verlangt wird, europäischer zu sein, als die Europäer es jemals waren, bleibt nichts anderes übrig, als Europäer zu werden. Sie werden die ersten wirklichen Europäer sein. Ohne Muslime kein Europa.
from here
Monday, June 30, 2008
Tuesday, June 17, 2008
Ein Lob den Iren
Nach dem irischen Nein zum Vertrag von Lissabon sind die Regierungen mit ihrem Latein am Ende: Sie müssen die Bevölkerung über Europa entscheiden lassen.
Von Jürgen Habermas
Europa muss eigenständig werden – für die "Wiedergeburt" des Kontinents warb der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas 2003, nach dem Irak-Krieg, mit dem französischen Philosophen Jacques Derrida. Nach dem Nein der Iren zum Lissabon-Vertrag redet der 78-jährige Intellektuelle den Regierungen und Parteien ins Gewissen: Sie müssen Europa zu einem lebenswichtigen Thema auf den Marktplätzen machen.
. . . und alle Räder stehen still.
Die Bauern ärgern sich über sinkende Weltmarktpreise und immer neue Vorschriften aus Brüssel. "Die unten" ärgern sich über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, erst recht in einem Land, wo die Leute nachbarschaftlich zusammenlebten. Die Bürger verachten die eigenen Politiker, die vieles versprechen, aber ohne Perspektive sind und nichts mehr bewegen (können).
Und dann dieses Referendum über einen Vertrag, der zu kompliziert ist, um ihn verstehen zu können. Von der EU-Mitgliedschaft hat man mehr oder weniger profitiert. Warum soll sich dann etwas ändern? Bedeutet nicht jede Stärkung der europäischen Institutionen die Schwächung von demokratischen Stimmen, die doch nur im nationalstaatlichen Raum gehört werden?
Die Bürger spüren den Paternalismus. Sie sollen wieder einmal etwas ratifizieren, woran sie nicht beteiligt waren. Freilich hat die Regierung in Aussicht gestellt, dieses Mal das Referendum nicht wiederholen zu lassen, bis das Volk endlich akklamiert. Und sind die Iren, dieses kleine Volk von Widerständlern, nicht die einzigen im weiten Europa, die überhaupt nach ihrer Meinung gefragt werden?
Sie wollen nicht wie Stimmvieh behandelt werden, das zur Urne getrieben wird. Mit Ausnahme von drei "Nein" sagenden Parlamentsabgeordneten steht ihnen die ganze politische Klasse geschlossen gegenüber. Damit stellt sich gewissermaßen die Politik als solche zur Wahl. Umso größer die Versuchung, "der" Politik einen Denkzettel zu verpassen. Heute ist diese Versuchung überall groß.
Über die Motive des irischen Neins lässt sich nur spekulieren. Dagegen sind die ersten Reaktionen von offizieller Seite eindeutig. Die aufgescheuchten Regierungen wollen nicht ratlos erscheinen, sie suchen nach einer technischen Lösung. Diese läuft auf eine Wiederholung des irischen Referendums hinaus.
Bürokratisch verabredete Notlösung
Das ist der pure Zynismus der Macher gegenüber dem verbal bezeugten Respekt vor dem Wähler - und Wasser auf die Mühlen derer, die munter darüber diskutieren, ob nicht die halbautoritären Formen der andernorts praktizierten Fassadendemokratien besser funktionieren.
Der Vertrag von Lissabon sollte endlich die Organisationsreform nachholen, die der Europa-Gipfel in Nizza, also vor der Erweiterung von 15 auf 27 Mitgliedstaaten, zwar gewollt, aber nicht zustande gebracht hat. Die Osterweiterung hat inzwischen mit dem krasseren Wohlstandsgefälle und der gesteigerten Interessenvielfalt einen entsprechend gewachsenen Integrationsbedarf erzeugt.
Mit den neuen Konflikten und Spannungen können die europäischen Gremien im bisherigen Stil schlecht zurechtkommen. Nach dem Scheitern einer europäischen Verfassung stellte der Lissabonner Vertrag die bürokratisch verabredete Notlösung dar, die verhohlen an den Bevölkerungen vorbei durchgepaukt werden sollte. Mit diesem letzten Kraftakt haben die Regierungen kaltschnäuzig vorgeführt, dass sie allein über das Schicksal Europas entscheiden. Leider mit der lästigen, von der irischen Verfassung vorgeschriebenen Ausnahme.
Auf der nächsten Seite sind ungelöste Probleme ernster zu nehmen als beeinflussbare Stimmungslagen.
Von Jürgen Habermas
Europa muss eigenständig werden – für die "Wiedergeburt" des Kontinents warb der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas 2003, nach dem Irak-Krieg, mit dem französischen Philosophen Jacques Derrida. Nach dem Nein der Iren zum Lissabon-Vertrag redet der 78-jährige Intellektuelle den Regierungen und Parteien ins Gewissen: Sie müssen Europa zu einem lebenswichtigen Thema auf den Marktplätzen machen.
. . . und alle Räder stehen still.
Die Bauern ärgern sich über sinkende Weltmarktpreise und immer neue Vorschriften aus Brüssel. "Die unten" ärgern sich über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, erst recht in einem Land, wo die Leute nachbarschaftlich zusammenlebten. Die Bürger verachten die eigenen Politiker, die vieles versprechen, aber ohne Perspektive sind und nichts mehr bewegen (können).
Und dann dieses Referendum über einen Vertrag, der zu kompliziert ist, um ihn verstehen zu können. Von der EU-Mitgliedschaft hat man mehr oder weniger profitiert. Warum soll sich dann etwas ändern? Bedeutet nicht jede Stärkung der europäischen Institutionen die Schwächung von demokratischen Stimmen, die doch nur im nationalstaatlichen Raum gehört werden?
Die Bürger spüren den Paternalismus. Sie sollen wieder einmal etwas ratifizieren, woran sie nicht beteiligt waren. Freilich hat die Regierung in Aussicht gestellt, dieses Mal das Referendum nicht wiederholen zu lassen, bis das Volk endlich akklamiert. Und sind die Iren, dieses kleine Volk von Widerständlern, nicht die einzigen im weiten Europa, die überhaupt nach ihrer Meinung gefragt werden?
Sie wollen nicht wie Stimmvieh behandelt werden, das zur Urne getrieben wird. Mit Ausnahme von drei "Nein" sagenden Parlamentsabgeordneten steht ihnen die ganze politische Klasse geschlossen gegenüber. Damit stellt sich gewissermaßen die Politik als solche zur Wahl. Umso größer die Versuchung, "der" Politik einen Denkzettel zu verpassen. Heute ist diese Versuchung überall groß.
Über die Motive des irischen Neins lässt sich nur spekulieren. Dagegen sind die ersten Reaktionen von offizieller Seite eindeutig. Die aufgescheuchten Regierungen wollen nicht ratlos erscheinen, sie suchen nach einer technischen Lösung. Diese läuft auf eine Wiederholung des irischen Referendums hinaus.
Bürokratisch verabredete Notlösung
Das ist der pure Zynismus der Macher gegenüber dem verbal bezeugten Respekt vor dem Wähler - und Wasser auf die Mühlen derer, die munter darüber diskutieren, ob nicht die halbautoritären Formen der andernorts praktizierten Fassadendemokratien besser funktionieren.
Der Vertrag von Lissabon sollte endlich die Organisationsreform nachholen, die der Europa-Gipfel in Nizza, also vor der Erweiterung von 15 auf 27 Mitgliedstaaten, zwar gewollt, aber nicht zustande gebracht hat. Die Osterweiterung hat inzwischen mit dem krasseren Wohlstandsgefälle und der gesteigerten Interessenvielfalt einen entsprechend gewachsenen Integrationsbedarf erzeugt.
Mit den neuen Konflikten und Spannungen können die europäischen Gremien im bisherigen Stil schlecht zurechtkommen. Nach dem Scheitern einer europäischen Verfassung stellte der Lissabonner Vertrag die bürokratisch verabredete Notlösung dar, die verhohlen an den Bevölkerungen vorbei durchgepaukt werden sollte. Mit diesem letzten Kraftakt haben die Regierungen kaltschnäuzig vorgeführt, dass sie allein über das Schicksal Europas entscheiden. Leider mit der lästigen, von der irischen Verfassung vorgeschriebenen Ausnahme.
Auf der nächsten Seite sind ungelöste Probleme ernster zu nehmen als beeinflussbare Stimmungslagen.
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